Unser Auto und das wohlige Gefühl der Geborgenheit

Das Auto mit Fremden zu teilen scheint für viele undenkbar zu sein – ein Einblick in unsere irrationale Beziehung zum Automobil.

Kein Fortbewegungsmittel, sondern ein Wohnzimmer für unterwegs. (Screenshot aus der Werbung für den Lincoln Corsair.)

(Dieser Text wurde für infosperber.ch verfasst.)

Ja, diese Bedenken sind nachvollziehbar. «Wer möchte unbekannte Menschen, die vielleicht unangenehm riechen, unsaubere Hände/Kleider/Schuhe haben, vielleicht unanständig, anmassend oder krank sind, viel oder gar nicht schwatzen, etc. (das weiss man ja vorher nicht) auf eine als unangenehm empfundene Distanzzone im eigenen Fahrzeug heranlassen?»

Das ist eine der Reaktionen, die der Artikel über Hermann Spiess und sein Manuskript «21» ausgelöst hat. Spiess analysiert in seinem Papier das sogenannte spontane Mitfahrsystem, das dazu beitragen soll, leere Sitze in Autos zu besetzen und damit die Anzahl Fahrzeuge auf den Strassen zu reduzieren. Andere Leserkommentare gehen in die gleiche Richtung. Unter einem Artikel auf Watson.ch über das Konzept des spontanen Mitfahrsystems wurden 91 Kommentare verfasst. Auch dort lautet die Stossrichtung: Interessante Idee, aber ohne mich.

Unabhängig davon, ob diese Bedenken gerechtfertigt sind oder nicht: Sie verdienen eine nähere Betrachtung – denn sie offenbaren, dass das Auto in gewisser Hinsicht mehr mit einer Wohnung zu tun hat als mit einem Verkehrsmittel.

Der Verfasser des Leserkommentars hat treffend eine Eigenschaft des Autos beschrieben, wegen der wir das Auto mögen: Wir können andere Menschen auf Distanz halten. Die unangenehm Riechenden, die Kranken, die Unanständigen und die Anmassenden. Per Knopfdruck können wir unerwünschte Begegnungen unterbinden, wir verriegeln die Türen und schliessen die Fenster. Das Auto schirmt uns auch vor praktisch allen anderen äusseren Einflüssen ab. Filter reinigen unsere Atemluft, Dämmglas schirmt den Verkehrslärm ab, Gummidichtungen den Regen.

Im Inneren eines Autos kontrollieren wir einen ganzen Kosmos von Annehmlichkeiten. Wir bestimmen, welche Musik gespielt wird und wie laut. Sitzposition, Luftzug, Raumtemperatur – alles exakt an unsere Bedürfnisse angepasst, selbst die Temperatur des Lenkrads oder der Geruch des Interieurs. Im Auto können wir uns im öffentlichen Raum bewegen, ohne mit ihm in Berührung zu kommen. Wir atmen sogar unsere eigene Luft.

Das ist uns wichtig. Eine Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts gfs.bern vom letzten Oktober ergab, dass sich mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung über 18 Jahre im Auto «geborgener» fühlen als im öffentlichen Verkehr. Das Auto vemittle «gerade in der Corona-Krise verstärkt ein Gefühl von Freiheit und Geborgenheit». Das erklärt die Ambivalenz, mit dem das spontane Mitfahrsystem konfrontiert ist. Wir verstehen das Auto als eindeutig privat, den öffentlichen Verkehr als eindeutig öffentlich. Wer Zug fährt, tauscht Geborgenheit gegen Anonymität ein – beide Situationen bieten Vorteile und die Verhältnisse sind geklärt. Gerade deshalb dürfte der Tauschhandel vielen näher liegen, als bei einem Fremden ins Auto zu sitzen, wo wir die Beziehungen neu aushandeln müssen.

Geborgenheit ist nur eine von vielen Eigenschaften, wegen der wir Autos benützen. Besonderes Gewicht hat die Eigenschaft, räumliche Distanzen überwinden zu können. Ihretwegen haben wir das ganze Land umgebaut. Wir fahren mit dem Auto zur Arbeit und verdienen Geld, wir fahren zum Einkaufen und geben das Geld wieder aus. Der Bund bezeichnet die Verkehrsinfrastrukturen deshalb als «Pulsadern der Volkswirtschaft». Spinnt man dieses Bild weiter, werden die Autos zu roten Blutkörperchen, die den ganzen Organismus mit Sauerstoff versorgen. Wir betrachten es deshalb als Staatsaufgabe, das Autofahren zu ermöglichen.

Das Problem ist nun, dass diese beiden Erwartungen – Privatsphäre für unterwegs und Mobilität – miteinander kollidieren: Eine Person, die alleine im Auto sitzt, beansprucht fünfmal so viel Stassenraum wie die Person, die das Auto mit vier anderen teilt. Die tiefe durchschnittliche Belegung während der Stosszeiten ist deshalb eine entscheidende Ursache für Stau. Und Stau ist – wenn man wie Hermann Spiess nicht nur die Autos betrachtet, sondern auch die freien Sitze – kein Mangel an Kapazitäten, sondern ein Mangel an Effizienz.

Und trotzdem fliessen jedes Jahr Milliarden in den Ausbau des Strassennetzes, in die Vergrösserung der Kapazität. Mit anderen Worten: Wenn der Staat das Strassennetz ausbaut, ermöglicht er nicht nur die Mobilität der Schweizer Bevölkerung, sondern auch den Komfort, alleine im Auto sitzen. Die Autofahrer bezahlen zwar einen verhältnismässig grossen Teil der Strasseninfrastruktur selbst, doch die Staukosten – Zeitverlust, staubedingte Unfälle und Schäden an Umwelt und Klima – bezahlen alle. Nicht nur, aber auch, damit wir Autofahrer uns im Auto geborgen fühlen können.

Das heisst nicht, dass es keine legitimen Gründe gäbe, keine Fremden im eigenen Auto haben zu wollen – namentlich Sicherheitsbedenken. Doch Autofahrenden Geborgenheit im öffentlichen Raum zu ermöglichen, geht weit über das hinaus, was wir zu den Aufgaben eines Staates zählen können.

Es ist wohl so, wie es Hanspeter Guggenbühl († 26. 5. 2021), Umweltjournalist und Mitgründer von Infosperber, zu sagen pflegte: «Wäre das Auto ein Verkehrsmittel, wäre es längst durch etwas Besseres ersetzt worden.» Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir darüber diskutieren, wie viel uns das Auto wert ist.


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